Ein Artikel von Traugott Heinemann-Grüder – erschienen im „Berliner Bergsteiger“ Ausgabe 01/2015
(Zitat aus 4-Seasons/Wintermagazin 2013).
Und ich füge hinzu, er oder sie wird belohnt mit wunderschönen Naturerlebnissen,
innerer Kontemplation und langem Nachhall.
Auf einer unserer vielen gemeinsamen Fels-, Eis- und Wandertouren in den West-
und Ostalpen setzen Piet Bruckmann und ich uns die Idee einer Winterdurchquerung der Hardangervidda in Norwegen in den Kopf.
Außer Schussfahrt verstehe ich nichts vom Skifahren. Also entscheiden wir uns für die Variante Schneeschuh.
Und einsam soll es werden; also muss die Tour vor der im März beginnenden Skisaison stattfinden. Sicher soll es sein; also kann die Tour frühestens ab Februar starten, weil dann die zu querenden Seen (und Flüsse) in der Regel zugefroren sind. Amundsen ist unser Vorbild – er hatte in der Hardangervidda für seine Polarexpeditionen trainiert, weil das Binnenlandwetter hier extrem ist – und deswegen soll natürlich auch im Zelt geschlafen werden.
Nun werden Flüge gebucht, Pulka umgebaut, Polarstiefel gekauft, die Tour nach viel Internetrecherche geplant. Unser Ziel ist eine Nord-Süd-Durchquerung der Hardangervidda
mit Schneeschuhen, Zelt und Pulka von Geilo (2013) bzw. Finse (2014) nach Haukeliseter.
Und dann geht die Reise Anfang Februar mit einer gehörigen Portion Aufregung endlich los.
In Finse holt uns der Vermieter der gebuchten Selbstversorgerhütte mit dem Skidoo ab. Der Skidoo mit Anhänger, in dem unsere großen und schweren Schlitten und auch noch Piet Platz finden müssen, frisst sich durch den tiefen Schnee den Hang hinauf und bleibt irgendwann stecken. Einzeln werden wir dann durch das dicke Schneegestöber zur komplett eingeschneiten Hütte gebracht, die schon von weitem im Scheinwerferkegel des Skidoos auszumachen war. Die erste Nacht beginnt also mit Kuschelfaktor.
Am nächsten Tag bekommen wir eine erste Einführung in Sachen Wetter. Null Sicht, Schneegestöber und Wind zum Glück von der Seite. Und es geht ordentlich bergauf. Mit
50 kg Gepäck auf dem Pulka bringen uns die 500 m Höhenanstieg auf die Hochebene der Hardangervidda aus der Puste.
Piet navigiert mit dem GPS- Gerät tapfer vorneweg. Nach fünf Stunden Laufen ohne Pause schlagen wir unser Zelt auf. Es wird eine stürmische Nacht. In mein Tagebuch schreibe ich: „Der Sturm lässt das Zelt rattern und verursacht einen Höllenlärm.“
Morgens ist der Zwischenraum des Zeltes bis oben mit Schnee gefüllt und beide haben wir am nächsten Tag das Gefühl, nicht geschlafen zu haben. Wir bekommen eine Ahnung davon, warum Amundsen hier für seine Polarexpeditionen trainiert hat.
Die Hardangervidda ist kein Gebirge, das sich so einfach entblößt. Wegen des ständigen
Nebels und des starken Windes, der den Schnee aufpeitscht, sehen wir wenig, und „wenig“ ist schon sehr übertrieben. Eigentlich sehen wir viele Tage gar nichts außer grauweiß. Schon nach wenigen Metern Abstand sieht man seinen eigenen Partner nicht mehr. Und permanent stolpern wir, weil der Wind den Schnee zu einer Wellenlandschaft geformt hat; doch die Wellen erkennen wir nicht, weil wir keine Konturen ausmachen können. Da bleibt viel Zeit, in sich zu gehen und darüber nachzudenken, warum wir das eigentlich machen. Die einen gehen im Urlaub ins Kloster, die anderen machen eine Fastenwoche und wir fahren ins Whiteout.
Und dann passiert, was passieren muss. Piet ist weg. Nicht zu sehen, nicht zu hören. Er ist einfach weg. Er hört mein Rufen nicht, nicht den schrillen Laut der Signalpfeife. Nichts.
Was tun? Ich ziehe spinnennetzähnliche Spuren um meinen momentanen Standort und frage mich, was passiert, wenn wir uns vor der Nacht nicht wiederfinden. Ich habe das Innenzelt mit dem Gestänge auf meinem Schlitten und hätte ein provisorisches Zelt. Piet hat auf seinem Pulka das Außenzelt, aber kein Gestänge, dafür aber beide GPS-
Geräte, weil das eine am Vormittag den Geist aufgegeben hatte.
Irgendwann stellt auch Piet fest, dass wir nicht mehr zusammen sind. Nach einer Stunde taucht er schemenhaft aus dem Nebel auf. Er hatte mit der Track-Back-Funktion zurück navigiert. Glück gehabt.
Wir vereinbaren, dass wir bei solchen Wettersituationen zukünftig immer dicht zusammen bleiben, und lernen, dass Karte, Kompass und Höhenmesser, die wir natürlich dabei haben, bei solchen Wetterbedingungen zu nichts nütze sind.
Am nächsten Morgen liegt die Hardangervidda lammfromm vor uns. Wir werden mit sagenhaften Landschaftseindrücken beglückt: Unendliche Weiten tun sich bei glasklarer Sicht und strahlendblauem Himmel mit einem 360°-Panorama um uns herum auf. Der Schnee knirscht unter den Schneeschuhen, kein Wunder, bei -28°C Nachttemperatur (im Zelt!) gefriert jeder Schnee zu festem Harsch. Ein Traum von Untergrund, da gleitet der Pulka nur so vor sich hin und wir kommen schnell voran. Mittags zieht ein heftiger Wind auf, der immer stärker wird, so dass wir uns regelrecht gegen ihn stemmen müssen, um überhaupt voran zu kommen. Und dann erleben wir ein nicht gekanntes Naturspektakel: Der ganze Berghang links von uns scheint auf uns zuzufließen. Grieselschnee windet sich in langen Fäden in atemberaubendem Tempo den Hang hinunter. Unser Zelt bauen wir dann im Windschatten eines großen Granitsteins auf und erleben als Krönung des Tages, nachdem sich der Wind dann gänzlich gelegt hat, einen fast schon kitschig-romantischen Sonnenuntergang.
Im Zelt zieht plötzlich Kaffeegeruch in meine Nase.
Nicht zu glauben, Piet hat eine Mini-Cafetera mitgenommen und kocht gerade einen Espresso für uns.
Tief in der Nacht schaue ich durch die Öffnung der Apsis in einen von keinem Kunstlicht beeinträchtigten, kuppelzeltähnlichen Sternenhimmel.
Und dann weiß ich, warum ich hier bin:
Um außerordentliche Naturereignisse wie am Nachmittag und mitten in der Nacht erleben zu können.
Am nächsten Tag haben wir wieder null Sicht. Irgendwann queren wir einen Hang und plötzlich liegt Piet samt Pulka ca. 3 m tiefer. Die Steilstufe ist bei diesen Sichtverhältnissen einfach nicht zu erkennen, man erkennt keinerlei Konturen. Ich lasse meinen Schlitten
daraufhin ein paar Meter weiter weg runterrutschen, aber der Schlitten landet nicht auf der Höhe von Piet, sondern rutscht gleich über die nächste Steilstufe hinaus, rauscht in schönem Tempo ca. 500 m den Hang hinunter und bleibt irgendwo in einer Schneewehe stecken.
Was für ein blöder Fehler! So muss ich den gesamten Hang wieder runter, den wir gerade erklommen hatten, um zu meinem Pulka zu gelangen. Gegen 15.30 Uhr erreichen wir eine felsige Abbruchkante und es ist klar: Hier geht es nicht weiter. Rechts steile Felsen, die an die Dolomiten erinnern, links ein Felsriegel und vor uns eine steile Rinne, wie ein Gully, wo wir mit den Pulkas niemals runterkommen. Während Piet das Zelt aufbaut, gehe ich auf Erkundungstour nach einem Weg ins Tal, wo wir auf der anderen Seite wieder steil hoch müssen. Den Weg finde ich: In großem Bogen müssen wir um den einen Felsriegel herum, um dann an einer Engstelle in den Hang hineinqueren zu können.
Und hier zeigt sich, dass die Bezeichnung „Hochebene“ ziemlich irritierend und nicht wirklich zutreffend ist. Die Hardangervidda hat neben der Prägung durch mäßig hügelige Berge und lang gezogene Täler auch immer wieder Abschnitte mit Berghängen, die gern eine Neigung von 30° und mehr aufweisen und damit sogar tendenziell lawinengefährdet sind. Windstill, mit wenig Sicht und konturloser Landschaft, startet der nächste Tag. Piet stürmt los, fuchtelt in einiger Entfernung zwei, drei Mal mit den Tourenstöcken in der Luft, um nach dem Weg zu fragen, stürmt weiter und ist nicht mehr zu sehen. Ich folge seinen Spuren im Schnee und höre ihn irgendwann laut rufen: „Nicht weiter, nicht weiter!“ Piet ist durch eine Wechte durchgebrochen und mitsamt seinem Schlitten ca. 5 m tief gefallen. Zum Glück ist wieder nichts passiert. Piet bezeichnet sich daraufhin selbst als Crashtest-Dummy. Erstmalig nach fünf Tagen sehen wir an diesem Tag Leben in dieser weiten Einsamkeit. Eine Herde Rentiere mit ca. 35 Tieren zieht in ungefähr 250 m Entfernung fliehend den Hang hinauf.
Am Nachmittag erreichen wir die Sandhaug-Winterhütte. Holz ist da und innerhalb von zwei Stunden schaffen wir es, die Raumtemperatur von 4° auf 12°C zu erhöhen. Endlich können wir unsere nassklammen Sachen trocknen. Angesichts des extremen Temperaturunterschieds zwischen Innenseite und Außenhülle des Schlafsacks kondensiert und gefriert der Dampf bereits an der Innenseite der Schlafsack-Außenhaut. Morgens packt man die Feuchtigkeit mit in den Packsack. Am nächsten Tag das gleiche Spiel. Und nach vier, fünf Tagen hat sich so viel Feuchtigkeit angesammelt, dass der Schlafsack total klumpig wird und nicht mehr wärmt.
Die Winterhütten in der Hardangervidda sind gut ausgestattet. Es gibt Gas und eine Kochstelle und riesige Töpfe zum Schmelzen des Schnees.
Es gibt Essensvorräte:
Knäckebrot, Honig, Marmelade, Wurst, Suppen, Gulasch, Nudeln, Kaffee, Tee, Zucker, Schokolade etc……
Noch zweimal steuern wir in den zwölf Tagen eine Winterhütte an: Kjeldebu ist sehr schlicht, dafür aber mit einem Vorratslager für ganze Kompanien ausgestattet; Hadlaskard ist vom allerfeinsten, sauber, gepflegt, da will man gar nicht wieder weg.
Am vorletzten Tag laufen wir immer parallel zu einem Fluss talauswärts, den wir mehrmals queren müssen. Etwas unheimlich ist mir, weil die Eisdecke nicht an allen Stellen geschlossen ist. Piet ist heute nicht mehr zu bremsen und weit vor mir. An einer Stelle breche ich mit einer ganzen Schneeplatte ein und kann mich gerade noch nach vorne werfen. Mit dem Schlitten hinter mir und den Schneeschuhen noch an den Füßen robbe ich mühsam und unbeholfen an den Uferhang. Dort bemerke ich, dass auch Piet hier schon eingebrochen war. Noch eine letzte frostige Nacht verbringen wir bei sternenklarem Himmel im Zelt.
Dann erreichen wir nach knapp 120 km und um viele Erfahrungen und schöne Erlebnisse reicher unseren neuen Zielort Eidfjord.
Bis zu unserem ursprünglichen Ziel, Haukeliseter, sind wir nicht gekommen – das bleibt ein Projekt für eine nächste Tour.
Mit dem Bus fahren wir anderntags nach Oslo und legen einen touristischen Museumstag ein, um dem Polarexpeditionspionier Roald Amundsen unsere ehrfürchtige Referenz zu erweisen.
Und ein bisschen stolz sind wir auch, weil wir alles gut gemeistert haben.
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